Beschäftigung im Niedriglohnsektor
Der Abgeordnete Ronald Schminke (SPD) hatte gefragt:
Der deutsche Arbeitsmarkt hat sich in den letzten zwei Dekaden deutlich verändert. Diese Veränderungen sind teilweise durch die deutsche Wiedervereinigung, die Einführung des Euro, die rasant fortschreitende Globalisierung und den damit verbundenen Strukturwandel verursacht worden.
Ziel der Regierungen war es immer, die zunehmende Arbeitslosigkeit zu verringern. Es gab durchaus Erfolge. Gleichwohl ist ein starker Rückgang bei traditionell gut vergüteten Beschäftigungsverhältnissen unübersehbar. Teilzeitjobs und befristete Beschäftigung haben im gleichen Zeitraum dramatisch zugenommen. Die atypische Beschäftigung mit 20 oder weniger Stunden in der Woche bringt immer mehr Arbeitnehmer in Probleme, weil diese nicht mehr vollständig und ausreichend im sozialen Sicherungssystem integriert sind.
Diese atypischen Beschäftigungsverhältnisse betreffen mittlerweile ca. ein Viertel aller abhängig Beschäftigten in Niedersachsen. Innerhalb dieser Gruppe üben ca. 70 % der Arbeitnehmer eine Teilzeitbeschäftigung aus, etwa ein Drittel ist jeweils befristet oder nur geringfügig beschäftigt. In ganz Deutschland betrug 2008 Niedersachsens Anteil an den atypischen Beschäftigten knapp 8 %. Überproportional darunter vertreten sind Frauen (atypische Beschäftigungsverhältnisse bei 42 %), junge Menschen, Geringqualifizierte und Ausländer. Die Entlohnung solcher Arbeitsverhältnisse ist deutlich schlechter als die anderer Arbeitnehmer in Normalbeschäftigungsverhältnissen.
Dieses geringere Verdienstniveau führt tendenziell zu einer größeren Armutsgefährdung. Während Normalarbeitnehmer in Niedersachsen einen durchschnittlichen Bruttoverdienst von 17,55 Euro in der Stunde erhalten, erzielen atypisch Beschäftigte im Schnitt einen Stundenlohn von gerade einmal 11,72 Euro, also ca. ein Drittel weniger. Viele liegen deutlich darunter. Der Anteil armutsgefährdeter Individuen liegt also bei den atypischen Beschäftigten um ein Vielfaches höher als bei anderen Arbeitnehmern. Besonders betroffen sind geringfügig Beschäftigte, bei denen selbst nach Berücksichtigung staatlicher Transfers und weiterer Einkommen im Haushalt mehr als ein Fünftel als armutsgefährdet gelten.
Diese Armutsgefährdung hat zur Folge, dass niedersächsische Suppenküchen immer mehr „Kundschaft“ bekommen. Ein Beispiel ist die Hann. Mündener Tafel, wo sich innerhalb von fünf Jahren die Zahl der Lebensmittelempfänger verdoppelt hat. Zu Beginn der Lebensmittelausgabe im Sommer 2005 gab es 200 Hilfsbedürftige, die das Angebot nutzten, inzwischen sind es 400 Menschen. Da in der Regel noch weitere Familienmitglieder mitversorgt werden, sind es derzeit rund 1 200 Menschen, die von der Tafel abhängig sind. Die Nachfrage ist an allen acht bis neun Ausgabetagen im Monat hoch. Früher kamen die Tafel-Kunden erst zum Monatsende, wenn das Geld zur Neige ging.
Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung:
- Welche Maßnahmen ergreift die Landesregierung, um die rasant zunehmende Verarmung von Menschen in atypischer Beschäftigung zu stoppen und diesen Menschen endlich wieder Beschäftigung mit auskömmlichen Löhnen zu ermöglichen?
- Welche rentenrechtlichen und materiellen Folgen werden sich nach Einschätzung der Landesregierung für die im Niedriglohnsektor beschäftigten Menschen ergeben, und setzt sich die Landesregierung dafür ein, dass Rücklagen für diejenigen gebildet werden, die heute trotz vollzeitiger Beschäftigung staatliche Zuschüsse in Anspruch nehmen müssen und auch später bei der Rente auf Transferzahlungen angewiesen sein werden?
- Bleibt die Landesregierung angesichts so dramatischer Veränderungen am Arbeitsmarkt weiterhin untätig, oder ist davon auszugehen, dass endlich arbeitsmarktpolitisch gegengesteuert wird, z. B. durch die Einführung eines branchenübergreifenden bundesweiten Mindestlohnes, der das Armutsrisiko vieler Menschen mindert?
Arbeitsminister Jörg Bode beantwortete die Anfrage namens der Landesregierung am 23.09.2010 wie folgt:
Vorbemerkungen:
Mit der Erleichterung von Leiharbeit und befristeter Beschäftigung sowie der Einführung von Mini- und Midijobs ist der Arbeitsmarkt seit 2003 deutlich flexibler geworden. Davon hat der Arbeitsmarkt bundesweit spürbar positiv profitiert. Vor allem in der Aufschwungphase von 2006 bis 2008 sind in Deutschland – insbesondere auch in Niedersachsen - deutlich mehr Arbeitsverhältnisse entstanden. Im Krisenjahr 2009 erreichte die Zahl der in Niedersachsen Erwerbstätigen mit mehr als 3,67 Mill. einen historischen Höchststand. Dabei zeichnet sich ab, dass im Zuge der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes der Anteil von atypischen Beschäftigungsformen in den letzten Jahren gewachsen ist. Allerdings dominiert das Normalarbeitsverhältnis weiterhin.
Die Teilzeit stellt mit Abstand die am weitesten verbreitete Form atypischer Beschäftigung dar. Knapp 80 % der Teilzeitbeschäftigten haben kein Interesse daran, Vollzeit zu arbeiten (IW, 2008). Je nach individueller Lebenslage soll Erwerbstätigkeit auch mit anderen Aktivitäten (Ausbildung oder Familienarbeit) vereinbar sein. Flexible Formen der Teilzeitbeschäftigung tragen diesem Aspekt Rechnung. Die starke Zunahme der Teilzeitjobs steht dabei in engem Zusammenhang mit der steigenden Erwerbsbeteiligung von Frauen. Insbesondere Frauen bevorzugen flexible Teilzeitarbeit, um Familie und Beruf besser vereinbaren zu können.
Auch die Leiharbeit hat sich in den letzten Jahren dynamisch entwickelt und wird zunehmend von Unternehmen genutzt, um besser auf Auftragsschwankungen reagieren zu können. So können sich Unternehmen mit Hilfe von Leiharbeit vergleichsweise kurzfristig an veränderte Produktions- und Absatzbedingungen und damit einhergehende Personalengpässe anpassen sowie temporäre Fehlzeiten von Arbeitnehmern kompensieren.
Die Bedeutung der Leiharbeit gemessen an der Zahl der Leiharbeitnehmer im Verhältnis zu allen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten ist mit rund 2,6 % beziehungsweise im Verhältnis zu allen Erwerbstätigen mit knapp 1,7 % im Dezember 2009 in Niedersachsen jedoch immer noch gering, so dass man also nicht grundsätzlich davon sprechen kann, dass Leiharbeit reguläre Beschäftigung verdrängt. Ausgeblendet wird häufig auch, dass Leiharbeitnehmer oftmals Vollzeit und sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind.Das Wachstum der atypischen Beschäftigung hängt insbesondere auch mit dem Strukturwandel der Wirtschaft hin zum Dienstleistungssektor zusammen. Auch in Deutschland mit seiner weiterhin vergleichsweise starken Industrie hat sich die Wirtschaftstruktur zu Gunsten des Dienstleistungssektors verschoben. So sind seit Mitte der 90er Jahre in Niedersachsen im Produzierenden Gewerbe rund 127.500 Arbeitsplätze abgebaut worden von 1.001.600 Erwerbstätige in 1995 auf 874.100 in 2009. Im selben Zeittraum sind im Dienstleistungssektor rund 464.000 neue Arbeitsplätze entstanden. Insbesondere in den Krisenjahren 2008/2009 gab es deutliche Beschäftigungsverluste im Produzierenden Gewerbe (Jahresdurchschnitt: -12.300) wobei anhaltend starke Beschäftigungszuwächse im Dienstleistungsbereich (Jahresdurchschnitt: + 25.100) zu erzeichnen waren. Da im Dienstleistungssektor rund ein Drittel aller Erwerbstätigen atypisch beschäftigt sind erklärt sich auch und insbesondere aus dem Strukturwandel eine Zunahme dieser Beschäftigungsform.
Dies vorausgeschickt, wird die Anfrage namens der Landesregierung wie folgt beantwortet:
Zu 1.:
Keinesfalls kann aus den vorliegenden Daten nur auf schlechte oder gar prekäre Arbeitsverhältnisse geschlossen werden. Die Zahlen spiegeln den strukturellen Wandel sowie geänderte institutionelle Rahmenbedingungen wider.
Nach den vorliegenden Daten ist für viele gering Qualifizierte eine einfache, entsprechend geringer entlohnte atypische Beschäftigung die einzige Chance auf Einstieg in Beschäftigung. Da die Produktivität im Bereich gering qualifizierter Arbeit entsprechend niedrig ist, können dort nur geringe Löhne gezahlt werden. Geringverdiener, die mit ihrem Arbeitslohn ihren Lebensunterhalt bzw. den ihrer Familie nicht decken können, erhalten im Falle der Bedürftigkeit ergänzende staatliche Unterstützung („aufstockendes“ Arbeitslosengeld II). Somit ist ein Existenz sicherndes Gesamteinkommen gewährleistet.
Atypische Beschäftigungsformen sind nicht zwangsläufig prekär. Für einige Beschäftigte bilden sie zumindest temporäre Brücken aus der Arbeitslosigkeit, mit ihnen lassen sich Familie und Beruf oftmals besser vereinbaren und ein Teil der Beschäftigten zieht z.B. Selbständigkeit abhängiger Beschäftigung vor. Weiterhin werden atypische Beschäftigungsverhältnisse oft von Menschen mit weiteren Einkommensquellen ausgeübt, die lediglich einen Hinzuverdienst anstreben. Dazu zählen insbesondere Schüler, Studenten und Rentner. Vor allem Teilzeitarbeit, befristete Beschäftigung oder Leiharbeitsverhältnisse umfassen auch anspruchsvolle Tätigkeiten, die entsprechend honoriert werden.
Zur Verbesserung der Arbeitsmarktchancen von Frauen, Personen mit niedrigem Bildungsabschluss und Menschen mit Migrationshintergrund – also von Personengruppen, die besonders von atypischen Beschäftigungsformen betroffen sind -, gibt es im Rahmen der niedersächsischen Arbeitsmarktpolitik eine Reihe von Angeboten, Arbeitsmarktprogrammen, die explizit auf diese Zielgruppen ausgerichtet sind.
- Förderung der Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt (FIFA)
Hierunter fallen Maßnahmen zur Integration arbeitsloser Frauen in den Arbeitsmarkt, zur Verbesserung der Erwerbstätigkeit beschäftigter Frauen, zur Gleichstellung von Frauen und Männern im Arbeitsleben und zur besseren Vereinbarung von Familie und Beruf.
- Jugendwerkstätten
Durch arbeitsmarktorientierte Qualifizierung, Vermittlung von Schlüsselqualifikationen, Nachholen von Berufsabschlüssen, Beratung, Bildung, persönliche Stabilisierung, soziale Integration und Bewältigung individueller Probleme sollen junge erwerbslose Menschen mit Eingliederungshemmnissen und besonderem Förderbedarf auf Ausbildung, Beruf und weiterführende Angebote der beruflichen Integration vorbereitet werden.
- Pro-Aktiv-Centren
Ziel des Förderprogramms ist es, individuell beeinträchtigte und sozial benachteiligte Jugendliche im Alter vom 14. bis zum 27. Lebensjahr im Rahmen von Case Management zu fördern. Hierbei soll gemeinsam mit den Jugendlichen abgestimmt werden, welcher Bedarf besteht und welche Unterstützung benötigt wird, um die Integration in Schule, Ausbildung, Beruf und Gesellschaft zu finden. Dabei werden auch junge Menschen begleitet, die von anderen Einrichtungen nicht oder nicht mehr erreicht werden.
- Förderung von Migranten und Migrantinnen
Angesichts des besonderen Förderbedarfs für die Zielgruppe der Migrantinnen und Migranten hat die Niedersächsische Landesregierung im Rahmen der „Qualifizierungsoffensive Niedersachsen“ eine Arbeitsmarktinitiative ergriffen. Schwerpunkt dieser Initiative sind Maßnahmen zur beruflichen Qualifizierung, die sich vorrangig an beschäftigte und arbeitslose Personen mit Migrationshintergrund richten.
Zu 2.:
Wichtigste Voraussetzung für eine ausreichende Alterssicherung ist nach Auffassung der Landesregierung eine möglichst lange Erwerbsbiographie in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis mit einem ausreichenden Erwerbseinkommen. Daher ist es Ziel der Landesregierung durch Wachstum Arbeitslosigkeit abzubauen und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zu sichern. Letztendlich ist eine Arbeitsmarktpolitik nur dann erfolgreich, wenn durch Wirtschaftswachstum tatsächlich neue Arbeitsplätze entstehen.
Im Übrigen verweist die Landesregierung darauf, dass die Zuständigkeit für die gesetzliche Rentenversicherung nach Artikel 74 Nr. 12 des Grundgesetzes beim Bund liegt. Nach Angaben der Bundesregierung soll im kommenden Jahr eine Regierungskommission ihre Arbeit aufnehmen und Vorschläge entwickeln, wie in Zukunft insgesamt für eine ausreichende soziale Sicherung im Alter gesorgt werden kann (Bundestagsdrucksache 17/2299). Die Ergebnisse der Regierungskommission bleiben abzuwarten.
Zu 3.:
Die Landesregierung lehnt einen einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn weiterhin ab, da sie darin insbesondere eine Gefahr für dringend erforderliche Beschäftigungschancen für gering Qualifizierte sieht. Arbeitsplätze im sogenannnten gering qualifizierten Bereich würden vermehrt ins Ausland verlagert bzw. im lokal verankerten Dienstleistungssektor durch Schwarzarbeit ersetzt werden. Die gesetzliche Festlegung eines Mindestlohnes bedeutet darüber hinaus immer auch einen Eingriff in die grundgesetzlich verbürgte Tarifautonomie, zu der sich die Landesregierung ausdrücklich bekennt.
Branchenspezifische Mindestlöhne, die auf der Grundlage des Tarifvertragsgesetzes, des Arbeitnehmerentsendegesetzes oder des Mindestarbeitsbedingungengesetzes festgesetzt werden, sind demgegenüber eher akzeptabel, da sie unter Einbindung des Sachverstandes der betroffenen Sozialpartner entsprechend der spezifischen Verhältnissen der einzelnen Branche festgelegt werden. Die Tarifpolitik der Sozialpartner wird so nicht wie bei gesetzlich festgelegten Mindestlöhnen ersetzt, sondern im Einzelfall ergänzt.
Artikel-Informationen
erstellt am:
07.10.2010