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Geschäftspraktiken der EDEKA-Tochter Netto in Filialen in Niedersachsen

Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 20.07.2012 - TOP 40. Antwort von Arbeitsminister Jörg Bode auf die mündliche Anfrage des Abgeordneten Patrick Humke (LINKE)


Der Abgeordnete Patrick Humke (LINKE) hatte gefragt:

Unter anderem durch regionale und überregionale Medienberichte im TV, Rundfunk und Zeitungen ist bekannt geworden, dass die Arbeitsbedingungen der beschäftigten Frauen und Männer der EDEKA-Tochter Netto vor allem in Südniedersachsen und in der Stadt Göttingen schlecht sind. Die nachweisliche Nichteinhaltung geltender Arbeitsschutzgesetze, des Arbeitszeitgesetzes, der missbräuchliche Arbeitseinsatz von Auszubildenden (Azubi), Lohndumping, prekäre Beschäftigung, Arbeitsverdichtung, unbezahlte Überstunden seien danach nur einige der Entwicklungen zulasten der Beschäftigten durch die Netto-Geschäftsleitung.

Diese Geschäftspraktiken trugen dazu bei, dass sich viele Beschäftigte gewerkschaftlich organisierten, der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di beitraten und Vertrauensleute wählten. Die Anliegen der Beschäftigten wurden vonseiten von Politikerinnen und Politikern einiger Parteien unterstützt, Sie stellten sich u. a. als Patinnen und Paten verschiedener Netto-Filialen zur Verfügung.

In der Folge ging die Leitung der EDEKA-Tochter dazu über, die Filialen zu schließen, in denen gewählte gewerkschaftliche Vertrauensleute arbeiteten. Es ist zu einem Abbau von Arbeitsplätzen gekommen, und die Nahversorgungssituation ist in bestimmten Bereichen deutlich verschlechtert worden.

Nach Auskunft der Gewerbeaufsichtsämter können aus Personal- und Kapazitätsgründen keine Kontrollen für die Einhaltung bestehender Arbeitnehmerrechte durchgeführt werden. Dieses könne nur nach einer Aufforderung übergeordneter Behörden oder der Landesregierung geschehen. Darüber hinaus würden Azubis nachweislich im ersten und zweiten Ausbildungsjahr als Marktleiter eingesetzt. Berufsschulen wie die Göttinger BBS I hätten sich bei Netto bereits darüber beschwert, dass die Azubis nicht am Berufsschulunterricht teilnähmen, weil sie andere Aufgaben in den Filialen zu übernehmen hätten. Von Netto vorausgesetzte und unentgeltliche Vor- und Nacharbeiten in den Filialen gehen zum einen zulasten der Freizeit der Beschäftigten und zum anderen zulasten der Sozialversicherungsträger und der Finanzämter, denen Einnahmen in spürbarem Maße verloren gingen.

Ich frage die Landesregierung:

  1. Wird die Landesregierung die Gewerbeaufsichtsämter auffordern, Filialen von Einzelhandelsdiscountern zu kontrollieren, deren Geschäftsleitungen Arbeitnehmerrechte wie die Arbeitsschutzgesetze und das Arbeitszeitgesetz missachten, und gegebenenfalls in welcher Weise?
  2. Vor dem Hintergrund der bundesweiten Medienberichterstattung, dass von der Netto-Leitung mit der Begründung, die Karrierechancen erhöhen zu wollen, bereits Azubis im ersten und zweiten Ausbildungsjahr Marktleitungen übernähmen, frage ich die Landesregierung: Wann setzt sie sich in welcher Weise mit der Industrie- und Handelskammer, der Leitung von Netto und der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di an einen runden Tisch, um diese Entwicklungen einstellen zu helfen?
  3. In welcher Größenordnung gehen den Sozialversicherungsträgern und den Finanzämtern Einnahmen verloren, wenn man voraussetzt, dass von den ca. 15 000 in niedersächsischen Einzelhandelsdiscountern Beschäftigten bei etwa 10 000 täglich unentgeltlich zwei Stunden für Vor- und Nacharbeiten berechnen würden, die rechtlich als eine entgeltliche Arbeit zu betrachten wären?

Abeitsminister Jörg Bode beantwortete die Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:

Die Landesregierung hat bereits im Rahmen der aktuellen Stunde der Sitzung des Niedersächsischen Landtags am 22.02.2012 zum Antrag der Fraktion „Die Linke – „ Prekäre Arbeitsverhältnisse bei Discountern – Was ist das Jobwunder in Niedersachsen wirklich wert?“ ausdrücklich betont, dass auch sie den Missbrauch flexibler Beschäftigungsformen zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und damit auch das sogenannte „Lohndumping“ ablehnt.

Sie hat bei dieser Gelegenheit aber auch darauf hingewiesen, dass nach Auffassung der Fachleute nicht einfach jede Beschäftigungsform, die dem Normalarbeitsverhältnis hinsichtlich Dauer, Umfang oder Lohnhöhe nicht entspricht, als „atypisch“ und noch weniger – wie auch wieder in der vorliegenden Anfrage – als „prekär“ diskreditiert werden kann.

Die Firma Netto Marken – Discount AG & Co. KG ist nach Kenntnis der Landesregierung überdies tarifgebunden und insoweit verpflichtet, u. a. die Bestimmungen des am 08.06.2012 vom Handelsverband Niedersachsen – Bremen e.V. mit der Gewerkschaft ver.di abgeschlossenen Manteltarifvertrages, z. B. zum Ausbildungswesen (§ 2a), zu Arbeitszeiten und Pausen (§ 5), zur Lohn – und Gehaltsregelung (§ 6) oder betr. die Mehr - , Nach-, Sonn -und Feiertagsarbeit (§ 7a) einzuhalten. Der Landesregierung ist nicht bekannt, dass Beschäftigte systematisch zu vom Tarif- oder Arbeitsvertrag nicht umfassten Arbeitsleistungen ohne Bezahlung genötigt werden. Sollte dies allerdings der Fall sein, könnten und müssten betroffene Beschäftigte tarifvertrags- bzw. arbeitsvertragswidrig vorenthaltene Arbeitsentgelte in letzter Konsequenz vor dem Arbeitsgericht einklagen.

Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Fragen namens der Landesregierung wie folgt:

Zu 1.:
Die staatlichen Gewerbeaufsichtsämter gehen Beschwerden über Verstöße gegen das Arbeitsschutzrecht gemäß § 4 Abs.6 der Dienstanweisung für die Staatlichen Gewerbeaufsichtsämter nach. Sie werden zudem auch eigeninitiativ tätig. Im vorliegenden Fall ist das Staatliche Gewerbeaufsichtsamt Göttingen aufgrund öffentlicher Proteste tätig geworden.

Zu 2.:
Den Industrie- und Handelskammern obliegt als zuständige Stelle nach § 71 Abs. 2 i.V.m. § 76 Abs. 1 Nr. 2 Berufsbildungsgesetz (BBiG) die Überwachung der Durchführung der Berufsausbildung. Darüber hinaus fördert sie diese durch die Beratung der an der Berufsausbildung beteiligten Personen. Die Kammern als Körperschaften des öffentlichen Rechts führen diese Aufgaben im Rahmen des eigenen Wirkungskreises aus und unterliegen daher nur der Rechts- und nicht der Fachaufsicht des Landes. Die Überwachung der Durchführung der Berufsausbildung sowie die Beratung in allen Fragen der Ausbildung zählen zu den Kernkompetenzen der Kammern. Die Kammern haben für diese Aufgaben erfahrene Beraterinnen und Berater bestellt (§ 76 Abs. 1 Satz 2 BBiG). Im Rahmen der Überwachung und Beratung steht der Industrie- und Handelskammer ein rechtlich abgestuftes Instrumentarium zur Verfügung um sicherzustellen, dass die Ausbildung ordnungsgemäß durchgeführt wird und die Ziele der Berufsausbildung erreicht werden.

Vor diesem Hintergrund ergibt sich für die Landesregierung kein Ansatzpunkt, im Rahmen der Rechtsaufsicht Maßnahmen zu veranlassen oder zu ergreifen.

Zu 3.:
Der Landesregierung ist es in der zur Beantwortung der Anfrage zur Verfügung stehenden nur kurzen Zeit zunächst trotz mehrfacher Versuche nicht gelungen, von der Netto - Discount AG &Co. KG eine Bestätigung der vom Fragesteller genannten Zahl von 15.000 in Niedersachsen beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern zu erhalten.

Der Landesregierung ist nicht bekannt, ob 10.000 Beschäftigte zwei Überstunden pro Tag leisten mussten, und wenn ja, ob diese nicht dem in den Vorbemerkungen angesprochenen Tarifvertrag entsprechend – und insoweit rechtlich zulässig – durch Freizeit ausgeglichen worden sind.

Zu den Hypothesen des Fragestellers gilt folgendes:
Steuerrechtlich gilt das sog. Zuflussprinzip. Das bedeutet, dass Einnahmen grundsätzlich erst dann besteuert werden, wenn die Einnahmen dem Steuerpflichtigen zugeflossen sind. Ebenso setzt der Lohnsteuerabzug beim Arbeitgeber einen Zufluss von Arbeitslohn voraus. Werden beim Arbeitnehmer bestimmte Zeiten – aus welchen Gründen auch immer – nicht als Arbeitszeit anerkannt und damit auch nicht entlohnt, so fließt dem Arbeitnehmer insoweit kein Arbeitslohn zu, der lohnversteuert werden muss. Daher kann in diesen Fällen nicht von einem Einnahmeausfall bei den Finanzämtern gesprochen werden. Werden Arbeitnehmer höher entlohnt – sei es durch eine Gehaltserhöhung oder sei es durch eine Anrechnung bestimmter Zeiten als Arbeitszeit –, so ist der höhere Arbeitslohn der Lohnversteuerung zu Grunde zu legen. Die Höhe der Lohnsteuer hängt von den individuellen Lohnsteuerabzugsmerkmalen des Arbeitnehmers und der Höhe des Arbeitslohns insgesamt ab, und ist daher nur im Einzelfall ermittelbar.

Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass eine Lohnerhöhung des Arbeitnehmers den Gewinn des Unternehmers schmälert, weil Arbeitslöhne als Betriebsausgaben abziehbar sind. Damit werden die Steuermehreinnahmen durch eine Lohnerhöhung mindestens teilweise wieder kompensiert.

Sozialversicherungsbeiträge werden von den beitragspflichtigen Einnahmen der Versicherungspflichtigen erhoben. Grundsätzlich sind danach von dem Entgelt für jede geleistete Arbeitsstunde Sozialabgaben zu entrichten. Diese betragen zurzeit für die

  • gesetzliche Krankenversicherung: 15,5 %
  • gesetzliche Pflegeversicherung: 1,95 % bzw. 2,2 % (für Kinderlose)
  • gesetzliche Rentenversicherung: 19,9 %
  • gesetzliche Arbeitslosenversicherung: 3 %.

Vom beitragspflichtigen Einkommen sind demnach insgesamt grundsätzlich 40,35 % bzw. 40,6 % Sozialversicherungsbeiträge zu entrichten.

Im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung erfolgt die Beitragberechnung nach Gefahrklassen, die sich aus den in der jeweiligen Branche für Arbeitsunfälle aufgewendeten Leistungen zu den Arbeitsentgelten errechnen (§ 157 Abs.3 Sozialgesetzbuch, Siebtes Buch (SGB VII). Eine unmittelbare Heranziehung zu Beiträgen nach geleisteten Arbeitsstunden erfolgt also nicht.

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erstellt am:
20.07.2012

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