Mindestlohn
Die Abgeordneten Gerd Will, Ronald Schminke, Dr. Gabriele Andretta, Stefan Klein und Holger Heymann (SPD) hatten gefragt:
Jeder siebte Beschäftigte in Niedersachsen verdient nach aktuellen Zahlen weniger als 8,50 Euro pro Stunde. Rund 130 000 Erwerbstätige in Niedersachsen beziehen zusätzlich zu ihrem Lohn staatliche Transferleistungen, weil ihre Löhne zu niedrig sind, um wenigstens das gesetzliche Existenzminimum abzusichern.
Aber nicht nur den deutschen und niedersächsischen Arbeitsmarkt betrifft die derzeitige Situation. Wenn hierzulande Dienstleistungen mit Niedriglöhnen angeboten werden, führt dies auch zu Wettbewerbsvorteilen gegenüber Unternehmen in Belgien, den Niederlanden oder Dänemark. Auch diese beklagen inzwischen Niedriglöhne durch Unternehmen in Niedersachsen. Sowohl in den Nachbarländern als auch in Niedersachsen sind dadurch fair bezahlte Arbeitsplätze bedroht.
Wir fragen die Landesregierung:
- Wie hat sich der Anteil der Beschäftigten im Niedriglohnsektor in Niedersachsen in den letzten Jahren entwickelt, und welche Branchen sind nach Kenntnis der Landesregierung von der Ausweitung des Niedriglohnsektors besonders betroffen?
- Welche Erkenntnisse hat die Landesregierung über die Arbeits- und Lohnbedingungen in der von der belgischen Regierungsdelegation vor Kurzem als für Belgien besonders problematisch dargestellten niedersächsischen Fleischindustrie?
- Will die Landesregierung etwas unternehmen, um existenzsichernde Löhne und Arbeitsbedingungen in Niedersachsen zu gewährleisten, gegebenenfalls was?
Der Minister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr Olaf Lies beantwortete die Anfrage namens der Landesregierung wie folgt:
Die Landesregierung sieht sich dem im Koalitionsvertrag zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen vereinbarten Leitbild guter und fair bezahlter Arbeit ebenso verpflichtet wie dem Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“.
Sie verfolgt deshalb das Ziel, prekärer Beschäftigung vor allem in der Form der Zahlung von Niedrigstlöhnen mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln entgegen zu treten.
Menschen in sozialversicherungspflichtiger Vollzeitbeschäftigung haben nach Ansicht der Landesregierung einen Anspruch darauf, am Ende des Monats mit dem verdienten Geld mehr finanzieren zu können als das zum Leben unabdingbar Erforderliche. Sie haben zudem einen berechtigten Anspruch, dieses Geld auch unter sozialstaatlich verantwortbaren menschenwürdigen sonstigen Arbeitsbedingungen zu verdienen.
Vor diesem Hintergrund geben Arbeitsbedingungen, nicht nur aber vor allem in der niedersächsischen Fleisch verarbeitenden Industrie, die schon seit Jahren kritisiert werden und in letzter Zeit verstärkt Gegenstand medialer Berichterstattung geworden sind, Anlass zu erheblicher Sorge.
Nach Auffassung der Landesregierung ist es nunmehr Zeit zu handeln.
Der Umstand, dass es immer noch keine empirisch belegten flächendeckenden Informationen über die dort gegebenen Arbeitsbedingungen und das Ausmaß des Fremdpersonaleinsatzes gibt, ändert daran nichts.
Darauf zu warten, hieße für einen nicht absehbaren Zeitraum gegenüber bekannt gewordenen Zuständen in viel zu vielen „Einzelfällen“ einfach „die Augen zu verschließen“.
Die Landesregierung beabsichtigt nicht, so zu verfahren.
Die
- überaus aufschlussreichen Ergebnisse der Befragung der Gewerkschaft Nahrungsmittel-Genuss-Gaststätten (NGG) von ca. 400 Betriebsräten der Ernährungsindustrie im Jahr 2012,
- im Vorspann der Anfrage angesprochene für den EU–Binnenmarkt mehr als bemerkenswerte Beschwerde der belgischen Regierung über das vom Nachbarland Deutschland hingenommene „Lohndumping“ zu Lasten der belgischen Fleischwirtschaft und tausender dortiger Arbeitsplätze sowie
- die nach der ARD–Sendung „Monitor“ vom 11.04.2013 in die gleiche Richtung gehenden Klagen aus Frankreich und den Niederlanden über den z.B. in der Landwirtschaft für sie ruinösen Wettbewerb wegen des in Deutschland fehlenden gesetzlichen Mindestlohns
sind nach Auffassung der Niedersächsischen Landesregierung vielmehr Grund genug, entschlossen und mit Wirkung für alle insoweit problematischen Branchen faire und damit bessere Arbeitsbedingungen einzufordern.
Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Fragen namens der Landesregierung wie folgt:
Zu 1.:
Die im Vorspann der Anfrage genannten Zahlen zu den Beschäftigten in Niedersachsen, die (in Betrieben mit 10 oder mehr Beschäftigten arbeiten und) weniger als 8,50 € in der Stunde verdienen, entsprechen dem Kenntnisstand der Landesregierung.
Hauptbranchen der Beschäftigung mit Stundenlöhnen unter 8,50 € waren nach den Ergebnissen der Verdienststrukturerhebung 2010 des Landesbetriebs für Statistik und Kommunikationstechnologie Niedersachsen (LSKN) die „Erbringung von sonstigen wirtschaftlichen Dienstleistungen“. Hierzu gehören:
- Handel und Gastgewerbe
- Garten und Landschaftsbau, Gebäudebetreuung
- Zeitarbeitsbranche
In diesen Branchen arbeiteten in Niedersachsen 56 % aller Beschäftigten, die unter 8,50 € in der Stunde verdienten.
Etwa zwei Drittel davon (60 %) waren bei nicht tarifgebundenen, 40 % bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt.
Wegen des 2007 in Kraft getretenen Verdienststatistikgesetzes sind die Daten der Verdienststrukturerhebungen 2001 und 2006 nicht mehr mit den Daten der Verdienststrukturerhebung 2010 vergleichbar.
Die Entwicklung der Zahlen der in Niedersachsen zu Stundenlöhnen unter 8,50 € beschäftigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zwischen 2001 und 2010 kann daher nicht aufgezeigt werden.
Zur Interpretation des Zahlenwertes der (darüber liegenden – der U.) Niedriglohngrenze allgemein weist das Statistische Bundesamt darauf hin, dass zur Entlastung der Wirtschaft per Gesetz bestimmte Arbeitnehmergruppen nicht in die Verdienststrukturerhebung einbezogen werden. Das sind einerseits alle Arbeitnehmer/-innen der Land- und Forstwirtschaft, der Fischerei sowie Hauspersonal und andererseits alle Arbeitnehmer, die in Betrieben mit weniger als zehn Arbeitnehmern tätig sind.
Dadurch kann die Verdienststrukturerhebung nicht feststellen, wie viele Arbeitnehmer einer bestimmten Gruppe, zum Beispiel Geringverdiener, es in absoluten Zahlen gibt.
Auch ist zu berücksichtigen, dass die nicht einbezogenen Arbeitnehmer im Durchschnitt geringere Verdienste haben als die einbezogenen Arbeitnehmer.
Die Ergebnisse der Verdienststrukturerhebung über die Verbreitung von geringen Verdiensten sind deshalb lt. Statistischem Bundesamt als Untergrenze zu betrachten.
Zu 2.:
In der niedersächsischen Fleischindustrie gibt es weder einen Arbeitgeberverband noch einen Branchentarifvertrag.
Die dem Ministerium für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr nach dem Tarifvertragsgesetz nur vereinzelt übermittelten Firmentarifverträge sind so veraltet, dass sie bereits deshalb keine Rückschlüsse auf die derzeit geltenden Lohn– und Arbeitsbedingungen mehr erlauben.
Der Landesregierung stehen daher diesbezüglich nur die in den Vorbemerkungen angesprochenen Erkenntnisse aus der NGG–Betriebsrätebefragung zur Verfügung.
Die dortigen Feststellungen in Abrede stellende fundierte Gegendarstellungen solcher Unternehmen und Betriebe, in denen faire Lohn– und Arbeitsbedingungen herrschen, sind ihr dagegen bislang nicht bekannt geworden.
Nach den Ergebnissen der genannten Betriebsrätebefragungen sind 90 % der Beschäftigten der Schlachthöfe Werkvertragsarbeitnehmer zumeist aus osteuropäischen Ländern und nur 10 % Stammbeschäftigte.
Die Werkvertragsarbeitnehmer verdienen danach im Schnitt 6 € weniger pro Stunde als die Stammbeschäftigten und damit noch weniger als die von ihnen zunehmend verdrängten Leiharbeitnehmer.
Ausweislich einer kürzlich erschienenen Veröffentlichung eines ehemaligen Syndikus der Lebensmittelindustrie und derzeitigen Mitgeschäftsführers der „AG Werkverträge und Zeitarbeit“ handelt es sich bei den Entgelten osteuropäischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern in der deutschen Fleischwirtschaft um für sie profitable, weil ja „ mit 6 bis 7 € doppelt so hohe Stundenlöhne“ wie durchschnittlich in Rumänien (4,50 €) oder Bulgarien (3,50 €) gezahlte Löhne, die es den Betroffenen erlaubten, Rücklagen zu bilden, mit denen sie dann in der Heimat „Eigenheime erwerben oder renovieren könnten“.
Diese Äußerungen sprechen nach Auffassung der Landesregierung für sich.
Zu 3.:
Ja, auf die Vorbemerkungen wird verwiesen.
Konkret fordert bzw. unterstützt die Landesregierung:
- Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns i.H. v. 8,50 €, der so auch für ausländische Werkvertragsarbeitnehmer gälte
- Verbesserung der personellen und sachlichen Ausstattung der für die Bekämpfung von Schwarzarbeit, illegaler Beschäftigung und die Kontrolle der Einhaltung von Mindestlöhnen zuständigen Behörden der Zollverwaltung ( Finanzkontrolle Schwarzarbeit- FKS)
- Verbesserung / Verstärkung der „Vorab“– Kontroll– und Einflussnahmemöglichkeiten des Betriebsrates beim beabsichtigten Einsatz von Fremdpersonal auf Werkvertragsbasis. Der Anspruch des Betriebsrates auf Information und Beratung vor der Entscheidung über einen Fremdpersonaleinsatz im Unternehmen muss verbessert, d.h. effektiver gestaltet werden
- einen in Vorbereitung befindlichen Entschließungsantrag der A-Länder betr. "Gute Arbeit" für den Bundesrat
Vertreter der niedersächsischen Fleischwirtschaft werden zudem in den nächsten Tagen vom Wirtschaftsministerium schriftlich aufgefordert werden, sich zu den in der Öffentlichkeit erhobenen Vorwürfen und zu den bei ihnen gegebenen Arbeitsbedingungen zu erklären.
Gemeinsam mit dem ML wird das MW darüber hinaus die Unternehmen und Verbände der Fleischwirtschaft zu einem intensiven Dialog über faire Löhne und Soziale Standards einladen.
Artikel-Informationen
erstellt am:
18.04.2013
Ansprechpartner/in:
Herr Stefan Wittke
Nds. Ministerium für Wirtschaft, Verkehr, Bauen und Digitalisierung
Pressesprecher
Friedrichswall 1
30159 Hannover
Tel: (0511) 120-5427
Fax: (0511) 120-995427