Arbeitnehmerfreizügigkeit - europäische Spielregeln und Arbeitnehmerschutz
Sitzung des Niedersächsischen Landtages am 18.02.2011 - TOP 28. Antwort von Arbeitsminister Jörg Bode auf die mündliche Anfrage des Abgeordneten Ronald Schminke (SPD)
Der Abgeordnete Ronald Schminke (SPD) hatte gefragt:
Die Entstehung eines europäischen Arbeitsmarktes wird nach Auslaufen der Übergangsfristen ab 1. Mai 2011 endgültig vollzogen. Die Umsetzung wird jedoch nur dann gelingen, wenn Verwerfungen durch gleiche Arbeitsbedingungen, einen einheitlichen Gesundheitsschutz und gleiche Löhne auf gleichem Territorium durch europaweit gültige Spielregeln verhindert werden. Ferner ist ein gleichberechtigter Zugang zu sozialen Leistungen für alle Arbeitnehmer sicherzustellen. Die Überwachung der Gesetze und Verordnungen ist nach dem Auslaufen der Überleitungsregelungen von besonderer Bedeutung.
Auf nationaler Ebene ist gemeinsam mit den Sozialpartnern zu prüfen, in welcher Weise nationale Bestimmungen und Praktiken sowie Systeme industrieller Arbeitsbeziehungen verändert und gestärkt werden müssen, um drohende Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt durch eine ungezügelte und grenzübergreifende Freizügigkeit zu verhindern.
Ich frage die Landesregierung:
- In welcher Weise informiert die Landesregierung alle Beteiligten auf dem Arbeitsmarkt über anzuwendende Vorschriften und Arbeitsbedingungen ab 1. Mai 2011?
- Welche Maßnahmen ergreift die Landesregierung, um den Missbrauch eines grenzübergreifenden Einsatzes von Subunternehmern zu bekämpfen und bei Verstößen eine Sanktion gegen den Generalunternehmer für die Zahlung von Steuern, Sozialleistungen und Löhnen durchzusetzen?
- Gibt es Gespräche der Landesregierung mit den Sozialpartnern, die eine Stärkung der industriellen Arbeitsbeziehungen zum Ziel haben, um den Herausforderungen einer grenzübergreifenden Freizügigkeit zu begegnen?
Am 1. Mai 2011 erhalten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den Ländern Ost- und Mitteleuropas, die im Jahr 2004 der EU beigetreten sind, erstmals freien Zugang zum Arbeitsmarkt in Deutschland.
Durch die Ausweitung der Freizügigkeit auf Deutschland werden sich die bisherigen Wanderungsströme verändern. Deutschland wird durch seine direkte Nachbarschaft zu Polen und Tschechien sicherlich eines der Hauptzielländer der möglichen Zuwanderer sein. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Deutschland bereits heute aufgrund der Regelungen zur ausländischen Saisonbeschäftigung eine hohe Zuwanderung ausländischer Saisonarbeitskräfte vor allem für Tätigkeiten in der Landwirtschaft sowie in der Gastronomie und im Schaustellergewerbe hat. In Niedersachsen gab es in 2009 insgesamt fast 50.000 ausländische Saisonarbeitskräfte, davon rund 48.000 in der Landwirtschaft sowie 1.400 im Hotel- und Gaststättengewerbe.
Aufgrund der Saisonabhängigkeit dieser Branchen wird es auch in Zukunft vor allem saisonale Beschäftigung von Zuwanderern aus den in 2004 der EU beigetretenen Staaten geben. Diese wird sich künftig jedoch nicht mehr starr an der bisherigen maximalen Beschäftigungsdauer von sechs Monaten orientieren müssen. Daher dürfte insbesondere die Landwirtschaft von der vollständigen Arbeitnehmerfreizügigkeit profitieren.
Die Landesregierung begrüßt das Inkrafttreten der Arbeitnehmerfreizügigkeit und sieht darin mehr Chancen als Risiken. Gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und angesichts der Diskussion um Pflegenotstand, saisonalen Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft und in der Gastronomie können mögliche Zuwanderer als Fachkräfte helfen. Die Landesregierung erwartet daher durchaus positive Wachstumsimpulse durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit.
Befürchtungen über negative Folgen der Zuwanderung haben sich in anderen Mitgliedsstaaten der EU, die bereits früher ihre Arbeitsmärkte geöffnet haben, bisher als unbegründet erwiesen. Auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) kommt 2009 in einer Analyse zu dem Ergebnis, dass langfristig positive Effekte für Deutschland durch die Öffnung der Arbeitsmärkte zu erwarten sind.
Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Fragen namens der Landesregierung wie folgt:
Zu 1.:
Die Landesregierung steht in einem kontinuierlichen Dialog und Informationsaustausch mit allen Beteiligten. Nach Auffassung der Landesregierung haben sich alle mit der Thematik befassten Akteure intensiv auf das Inkrafttreten der Arbeitnehmerfreizügigkeit vorbereitet und entsprechende Informationen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer in Niedersachsen bereitgestellt. Der Landesregierung sind keine offenen Fragen bekannt.
Zu 2.:
Die Landesregierung verweist zunächst darauf, dass nach der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung der Bund gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 Grundgesetz von seinem konkurrierenden Gesetzgebungsrecht u.a. auf dem Gebiet des Arbeitsrechts und der Sozialversicherung Gebrauch gemacht hat. Die Landesregierung hat hier keine Möglichkeit, Regeln zu erlassen. Bereits nach geltendem Recht (§ 14 Arbeitnehmerentsendegesetz) haftet der Generalunternehmer für seine Subunternehmer hinsichtlich des Nettoentgelts der Arbeitnehmer wie ein selbstschuldnerischer Bürge, für die Sozialabgaben gemäß § 28 e Abs. 3a SGB IV haftet er in gleicher Weise. Der Zoll und die Behörden der Sozialversicherung sind berufen, für die Durchsetzung derartiger Ansprüche zu sorgen. Die Landesregierung sieht keine Anhaltspunkte dafür, dass die genannten Behörden ihren Aufgaben nach dem 1. Mai 2011 nicht ordnungsgemäß nachkommen werden. Unabhängig von der Bundeszuständigkeit für das Arbeits- und Sozialrecht hält die Landesregierung deshalb Maßnahmen für nicht erforderlich.
Zu 3.:
Generell haben Gespräche der Landesregierung mit den Sozialpartnern immer auch das Ziel einer Stärkung der Arbeitsbeziehungen. Den Sozialpartnern ist die in den Vorbemerkungen geschilderte Position der Landesregierung zur Arbeitnehmerfreizügigkeit bekannt. Auch wenn die Landesregierung in der Freizügigkeit mehr Chancen als Risiken sieht, wird sie intensiv auf die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt achten. Die Landesregierung sieht in diesem Zusammenhang die Einführung einer Lohnuntergrenze in der Zeitarbeit zum 1. Mai 2011 als notwendig an, um zu verhindern, dass durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit die Arbeits- und Tarifverträge aus den Zeitarbeitsbereichen anderer europäischer Länder mit niedrigeren Lohnstandards gleichsam importiert werden. Sollte es dennoch zu kritischen oder negativen Entwicklungen kommen, wie einer spürbaren Zunahme von Lohndumping oder Verdrängung einheimischer Arbeitskräfte durch Zuwanderer und dadurch zunehmende Arbeitslosigkeit, wird die Landesregierung kurzfristig aktiv werden und gegensteuern.
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erstellt am:
18.02.2011