Beschäftigungs- und Entlohnungsbedingungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus anderen EU-Mitgliedstaaten
Die Abgeordnete Petra Emmerich-Kopatsch (SPD) hatte gefragt:
Am 1. Mai 2004 und am 1. Januar 2007 sind der Europäischen Union (EU) insgesamt zwölf Staaten als neue Mitgliedstaaten beigetreten, darunter zehn osteuropäische Länder. Während einer Übergangsphase von bis zu sieben Jahren konnten die „alten“ EU-Mitgliedstaaten die Arbeitnehmerfreizügigkeit für Staatsangehörige der osteuropäischen neuen Mitgliedstaaten beschränken. Analog dazu konnten im Rahmen von Übergangsregelungen auch hinsichtlich der Dienstleistungsfreiheit zeitlich befristete Beschränkungen eingeführt werden. Deutschland hat diese Möglichkeiten bei der Arbeitnehmerfreizügigkeit sehr weitgehend und bei der Dienstleistungsfreiheit teilweise genutzt.
Seit dem 1. Mai 2011 sind diese Übergangsregelungen für die 2004 beigetretenen Staaten ausgelaufen. Es ist nun allen EU-Bürgerinnen und EU-Bürgern (mit Ausnahme der Staatsangehörigen der 2007 beigetretenen Staaten Rumänien und Bulgarien) möglich, weitgehend ohne Einschränkungen in Deutschland zu arbeiten. Nach derzeitiger Sach- und Rechtslage ist allerdings nicht für alle Formen und Fälle der grenzüberschreitenden Mobilität von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern sichergestellt, dass das in Deutschland geltende Arbeits- und Tarifrecht alle abhängig Beschäftigten - unabhängig von ihrer Herkunft - vollständig erfasst.
Neben der rein formellen Frage nach der geltenden Rechtslage stellt sich überdies die Frage nach der tatsächlichen Möglichkeit ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sich über ihre Rechte zu informieren und diese gegebenenfalls durchzusetzen. Hier wäre an Hemmnisse wie mangelnde Sprachkenntnisse, eine mangelnde Vertrautheit mit dem Rechtssystem in Deutschland oder einen fehlenden Zugang zu Informationen zu denken. Diese Probleme betreffen dabei keineswegs nur entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, sondern etwa auch sozialversicherungspflichtig oder illegal Beschäftigte und (Schein-)Selbstständige aus anderen EU-Mitgliedstaaten sowie Beschäftigte im Rahmen der grenzüberschreitenden Arbeitnehmerüberlassung.
Vor diesem Hintergrund frage ich die Landesregierung:
- Über welche Kenntnisse verfügt die Landesregierung hinsichtlich der Anzahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus anderen EU-Mitgliedstaaten, die sich in Niedersachsen aufhalten und die den folgenden Gruppen zuzuordnen sind, sowie hinsichtlich ihrer Beschäftigungs- und Entlohnungsbedingungen
– zur Erbringung von Dienstleistungen entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer,
– Scheinselbstständige,
– Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in grenzüberschreitender Arbeitnehmerüberlassung,
– Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in illegaler Beschäftigung? - In welchen Branchen sind die in Frage 1 aufgeführten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer überwiegend beschäftigt?
- Welche Maßnahmen unternimmt oder plant die Landesregierung, um ihren Kenntnisstand hinsichtlich der Anzahl, der Beschäftigungs- und der Entlohnungsbedingungen der in Frage 1 aufgeführten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu verbessern?
- Welche Maßnahmen unternimmt oder plant die Landesregierung, um den Zugang zu arbeits- und sozialrechtlichen Informationen für die in Frage 1 aufgeführten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu verbessern?
- Welche Maßnahmen unternimmt oder plant die Landesregierung, um die tatsächlichen Möglichkeiten zur Durchsetzung eigener Rechte der in Frage 1 aufgeführten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu verbessern?
- Steht oder stand die Landesregierung im Austausch mit anderen Landesregierungen, mit Beratungseinrichtungen, mit Interessenverbänden der Arbeitnehmer- oder der Arbeitgeberseite oder mit Organisationen von Migrantinnen und Migranten rund um Fragen der Beschäftigungs- und Entlohnungsbedingungen der in Frage 1 aufgeführten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer?
Nach der von der Bundesagentur für Arbeit (BA) im April 2012 vorgelegten vorläufigen Auswertung der Auswirkungen der uneingeschränkten Arbeitnehmerfreizügigkeit ab dem 01. Mai 2011 mit Stand zum 29. Februar 2012 waren zu diesem Zeitpunkt in Deutschland insgesamt 284.000 und in Niedersachsen 26.200 sozialversicherungspflichtig und ausschließlich geringfügig Beschäftigte aus den acht neuen Mitgliedstaaten der EU registriert.
Über Scheinselbständige sowie über entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer liegen der BA und auch der Niedersächsischen Landesregierung keine Informationen bzw. Statistiken vor.
Gleiches gilt für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in grenzüberschreitender Arbeitnehmerüberlassung (Arbeitnehmer/innen von Verleihfirmen mit Sitz im Ausland, die bei niedersächsischen Entleihern tätig sind).
Bekannt dagegen ist die Zahl der in Niedersachsen im Wirtschaftszweig Arbeitnehmerüberlassung sozialversicherungspflichtig und ausschließlich geringfügig Beschäftigten aus den anderen EU - Mitgliedstaaten. Zum Stichtag 30. September 2011 waren dies zusammen 4.079 Personen.
Die Einhaltung der arbeits- und sozialrechtlichen Schutzbestimmungen des deutschen und europäischen Rechts für ausländische Beschäftigte in Niedersachsen ist auch für die Landesregierung ein besonders wichtiges Anliegen.
Die erforderlichen rechtlichen Voraussetzungen hat der dafür zuständige Bundesgesetzgeber mit dem Arbeitnehmerentsendegesetz, dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz, dem Gesetz zur Bekämpfung der Schwarzarbeit und illegalen Beschäftigung und den in diesen Gesetzen enthaltenen Vorschriften zu den Mindestanforderungen und zur Kontrolle der Einhaltung der Arbeitsbedingungen durch in- und ausländische Arbeitgeber geschaffen.Das gilt auch für die zur Arbeitsleistung nach Niedersachsen entsandten bzw. überlassenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aus den EU-Mitgliedstaaten.
Die Landesregierung hat keinen begründbaren Zweifel daran, dass sich auch die übergroße Mehrheit aller ausländischen Arbeitgeber vorgenannter Beschäftigtengruppen bei der Gewährung und Einhaltung der Beschäftigungs- und Entlohnungsbedingungen so rechtstreu verhalten wie deutsche Arbeitgeber.
Ein Generalverdacht gegen ausländische Verleihfirmen oder Werkvertragsnehmer oder gegen deren deutsche Auftraggeber ist nicht gerechtfertigt.
Soweit Anhaltspunkte für Verstöße vorliegen, haben Letztgenannte mit entsprechenden Kontrollen und Maßnahmen der nach dem Arbeitnehmerentsendegesetz, dem Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz und dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz zuständigen Behörden (vor allem der Zollbehörden - Finanzkontrolle Schwarzarbeit -, der Bundesagentur für Arbeit) und - im Falle von Scheinselbständigkeit - der Deutschen Rentenversicherung Bund zu rechnen.
Die Deutsche Rentenversicherung Bund prüft z.B. zusammen mit ihren regionalen Stellen im ca. 4- bis 6-jährigen Turnus alle Betriebe, die sozialversicherungspflichtige Beschäftigte haben. Diese Prüfungen dienen der Klärung, ob ordnungsgemäße Sozialversicherungsleistungen abgeführt werden. Im Zuge der Prüfungen werden auch Fälle von Scheinselbständigkeit aufgedeckt und geahndet.
Die Landesregierung hat keine Veranlassung, an der gesetzeskonformen und angemessenen Arbeit der genannten Behörden zu zweifeln.
Insbesondere liegen ihr keine Erkenntnisse darüber vor, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus anderen EU-Mitgliedsstaaten in einem Maße ungesetzlichen Beschäftigungs- und Entlohnungsbedingungen ausgesetzt wären, das eine grundsätzliche Änderung der geltenden rechtlichen Bestimmungen erforderlich machen würde.
Die Beschäftigungs- und Entlohnungsbedingungen von illegal Beschäftigten und Scheinselbständigen sowie deren Anzahl sind der Landesregierung darüber hinaus nur so weit bekannt und können dies auch nur so weit sein, wie sie von den zuständigen Kontrollbehörden im Einzelfall ermittelt worden sind und die Landesregierung entsprechende Informationen erhalten hat.
Darüber hinaus wird keine Veranlassung zur Erhebung eigener zusätzlicher Informationen gesehen, für die es im Übrigen einer Rechtsgrundlage bedürfte, die nicht in der Kompetenz des Landesgesetzgebers liegt.
Dies vorausgeschickt, beantworte ich die Fragen namens der Landesregierung wie folgt:
Zu 1.:
Siehe Vorbemerkungen.
Zu 2.:
Die BA führt keine Statistik über die Branchen, in denen Beschäftigte aus anderen
EU – Mitgliedstaaten grenzüberschreitend tätig sind. Dort – und damit auch der Landesregierung – ist nicht bekannt, wie viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zur Erbringung von Dienstleistungen nach Niedersachsen entsandt sind.
Eine Meldepflicht dafür gibt es nach Auffassung der Landesregierung zu Recht nicht, da innerhalb der EU Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit herrscht.
Zu 3.:
Keine.
Die Beschäftigungs- und Entlohnungsbedingungen der in der Anfrage aufgeführten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer müssen den in Deutschland geltenden gesetzlichen und bei bestehender Allgemeinverbindlicherklärung auch tarifvertraglichen Bestimmungen entsprechen.
Die Landesregierung geht mangels empirisch belegter und belastbarer Hinweise für die gegenteilige Annahme davon aus, dass dies in der übergroßen Mehrheit auch der Fall ist.
Die genannten Bestimmungen sind nach ihrer Auffassung für einen angemessenen Schutz der Beschäftigten ausreichend.
Im Übrigen wird auf die Vorbemerkungen verwiesen.
Zu 4.:
Auf die Vorbemerkungen – hier insbesondere zur Zuständigkeit für die entsprechenden arbeits- und sozialrechtlichen Vorschriften wird verwiesen.
Die Landesregierung wird sich aber dafür einsetzen, dass die Bundesagentur für Arbeit und die Zollbehörden ihre Merkblätter und Informationen über die Rechte der ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in deren Heimatsprachen ins Netz stellt.
Zu 5.:
Keine.
Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer kann seine Ansprüche auf gesetzeskonforme Entlohnung und Arbeitsbedingungen vor dem zuständigen deutschen Arbeitsgericht einklagen. Grenzüberschreitend entsandte Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können nach § 15 Arbeitnehmerentsendegesetz zusätzlich zu ihrer Klagemöglichkeit im Heimatland auch den Rechtsschutz deutscher Arbeitsgerichte in Anspruch nehmen.
Sie können sich dabei nach allgemeinem Prozessrecht bei der Prozessführung auch beispielsweise durch eine Gewerkschaft vertreten lassen.
Zu 6.:
Nein.
Zur Verfolgung und Ahndung von Verstößen gegen die zum Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern erlassenen arbeitsrechtlichen Bestimmungen sind - wie in den Vorbemerkungen dargestellt - die Behörden des Bundes berufen, hier vor allem die BA und die Finanzkontrolle Schwarzarbeit der Bundeszollverwaltung.
Zu diesen Behörden hält die Landesregierung den erforderlichen und bedarfsentsprechenden Kontakt.
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erstellt am:
22.06.2012